Kreisgalerie Dahn

Einführung von Dr. Matthias Brück

Kreisgalerie Dahn, Südwest-Pfalz, 8.1.2006

Bernard Shaw hat es gewusst: Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider. Er nimmt jedes Mal neu Maß, wenn er mich trifft, während alle anderen Menschen immer die alten Maßstäbe anlegen in der Meinung, sie würden auch heute noch passen.

Nun hoffe ich, dass Sie als Betrachter alle zu der Spezies der "Schneider" gehören, dass Sie Veränderungen, Ungewohntes und von der Norm Abweichendes zu schätzen wissen, denn dann sind Sie hier in der Ausstellung von Ute Krautkremer "Inside - Out" genau richtig.

Denn Skulpturen und Reliefs geben in puncto Material schon einmal vor, etwas zu sein, was sie nicht sind. Denn auf den ersten Blick scheint es sich hier um ein Gestalten mit Ton zu handeln, dem Stoff, mit dem die Künstlerin ursprünglich ihren Schaffensprozess begonnen hat. Doch um Ihre neuen Ideen zu verwirklichen, musste Ute Krautkremer gewissermaßen zwangsläufig dem Papier als "Transporteur" ihrer Vorstellungen den Vorrang geben.

Die spezielle Technik des Papiergusses erlaubt es nun, nicht nur dünnwandige Formen zu erstellen, sondern ein überwältigendes Repertoire an Beziehungen, an Möglichkeiten des Umgreifenden wie Ineinandergreifenden zu realisieren.

Nicht umsonst wurde "Inside - Out" als Titel gewählt. Das "Drinnen" wie das "Draußen" befindet sich in einer fließenden Korrespondenz. Das heißt, es gibt keine hermetische Abgrenzung, keine dogmatische Definition für das jeweilige Exponat. Denn die Papierformen öffnen sich - bleiben offen, im Gegensatz zu früheren Arbeiten, deren Teile sich gewissermaßen ergänzten, zu einem puzzleartigen Ganzen fügten.

Dieses Charakteristikum verschwindet nach und nach, die Formen umgreifen nicht mehr einen bestimmten Raum, sie ragen in den Raum. Anstelle von kompakter Geschlossenheit täuschen sie Inhalt und Volumen nur noch vor und - nach einem Zitat von Ute Krautkremer - "sie entlarven sich selbst als lediglich Form umschließende 'Hüllen', die den umgebenden Raum als Negativ-Form sichtbar machen…".

Was in der nüchternen Beschreibung kompliziert klingen mag, erschließt sich in der Betrachtung selbst häufig wesentlich einfacher. Denn wer sich - über den ersten Blick hinaus - auf diese Arbeiten einlässt, erfährt durch die faszinierende Verschränkung von Abstraktion und Wirklichkeit einen ständigen Wechsel möglicher Wahrnehmung.
Selbst oder gerade in einem seriellen Prozess, gelingt es dieser Künstlerin, das vermeintlich Identische durch kaum spürbare Änderungen sanft zu variieren und somit der Monotonie einer Reihung zu entgehen. Seien es nun "Portraits" oder plastische Fragmente, von hier aus können die einzelnen Interpretationsmöglichkeiten ansetzen, die im Werk von Ute Krautkremer eigentlich keiner dogmatischen Beschränkung unterliegen.

Dann kann man erfahren, wie sich - aus der oft eigenwilligen Verbindung von Fläche und Form beispielsweise - mögliche Assoziationen zu Vorhandenem erschließen, falls man sich vom eigenen Vorverständnis, vom eigenen Vor-Urteil nicht blockieren lässt. Denn es bietet sich ein seltener Reichtum an Vielfalt: Kantige Verschränkungen, offene knotenartige Verschlingungen, octopusartiges Greifen oder ein gleitendes Segeln kann das Erscheinungsbild dieser Arbeiten je bestimmen - wie ein indirektes Suchen nach Ergänzung.

Stets ästhetisch ausgerichtet, doch dann sogleich wieder "gestört" durch bewusst gesetzte Eingriffe, gelingt dieser Künstlerin immer wieder eine eigene spannungsreiche Harmonie, in der die Gegensätze aufgehoben werden. Dort, wo Ute Krautkremer den Menschen in ihre Kompositionen miteinbezieht, scheint er, sein Portrait, sein Gesicht, wie von Klammern eingeschlossen, blicklos-entrückt determiniert zu sein. Oder aber er entzieht sich in wirbeligen, freien Strich-Turbulenzen jedem Versuch des Vermessens, des Verplanens, jeder anthropologischer Verengung.

In einzelnen Exponaten jedoch betont diese Künstlerin sanft und indirekt die existentielle Notwendigkeit liebender Kommunikation: Immer dann, wenn suchend-tastende Hände im Begriff sind, symbolisch einen losen, verbindenden "Faden" gemeinsam zu ergreifen. Sie zeigt ein Welt- und Menschenbild des "offenen Horizontes", wie es Karl Jaspers einmal formuliert hat, das nicht dem Zeitgeist oder wissenschaftlicher Determinierung huldigt.

So verlangen diese Werke von Ute Krautkremer eigentlich nicht nur eine Neuorientierung des Sehens, sondern auch des Denkens. Es gibt in der Kunstphilosophie des Japaners Tsujimura Kôichi den Begriff der "Circumspektive", des "Umblickens", das die Richtungen des Vorblickens, Nachblickens, Aufblickens, Zurückblickens wie alle perspektivischen Varianten in sich erhält.

Auch der Mensch gehört zu dieser Circumspektive, er steht in ihrer Mitte. Jedoch nicht als Subjekt, nicht als Selbstbewusstsein im Sinne der europäischen Neuzeit. Damit aber diese Circumspektive möglich wird, muss der Mensch nicht nur von sich aus die Umwelt sehen und denken, sondern sich selbst von dieser Umwelt her. Das bedeutet letztlich ein Aufheben des perspektivischen Denkens, das Mensch und Ding immer nur in der traditionellen Subjekt-Objekt-Spaltung gedacht hat.